2009-10-12T00:00:00Z Das Schweigen brechen

Das Ende eines Betriebes begegnet den meisten als statistischer Wert. Im Halbjahrestakt geben Wirtschaftsinstitute die aktuellen Zahlen zu Unternehmensinsolvenzen heraus, sie liegen in jedem Jahr im fünfstelligen Bereich. Firmeninsolvenzen sind etwas Normales im komplexen Auf und Ab der Märkte. Wer die Situation selbst erlebt hat, weiß, dass diese Einschätzung falsch ist. Viele Betroffene erfahren die Insolvenz ihres Betriebes als fundamentale Krise, nicht nur, weil die berufliche Zukunft auf dem Spiel steht.

Ohnmacht empfinden die meisten vor allem, weil sie mit niemandem offen reden können: "Ich war wütend und verzweifelt. Niemand hat sich getraut, mich anzusprechen, geredet wurde nur hinter meinem Rücken," berichtet der Dachdecker Peter Filder* über das Schweigen im Umfeld, als sein Betrieb in die Krise geriet. Auch seine Ehe hielt dem Druck nicht stand, aus der wirtschaftlichen wurde eine Lebenskrise.

Über Insolvenz redet man nicht

Warum sind die Folgen von Insolvenz so weitreichend? "Scheitern, Krise und Insolvenz sind in unserer Gesellschaft Tabuthemen", erklärt der Coach und Unternehmensberater Attila von Unruh. Über eine drohende Insolvenz redet man nicht, Sorgen und Selbstzweifel werden unterdrückt. Für die meisten Betroffenen ist bereits das Eingeständnis, dass es nicht mehr weitergeht mit dem Betrieb und sie Hilfe benötigen, eine unüberwindbare Hürde. Die Folge: "Von der Insolvenz betroffene Personen rutschen vielfach in eine Parallelwelt ab. Obwohl ihr Schiff schon abgesoffen ist, klammern sie sich an die Hoffnung, das alles noch gut wird", so von Unruh. Der Berater weiß, wovon er spricht, nach 15 Jahren erfolgreicher Arbeit als Geschäftsführer geriet er selbst in die Insolvenz: "Ich fühlte mich unglaublich allein mit meinen Sorgen und sah eine Zeitlang für mich keine Perspektiven mehr. Erst als ich anfing, über meine Situation zu reden, konnte ich Hilfe erfahren durch Freunde, die zuhörten und mir beistanden. Dabei traf ich immer mehr Menschen, die selber in einer ähnlichen Situation waren gemeinsam stellten wir fest, dass es Wege und Mittel gibt, die Insolvenz zu meistern."

Austausch auf Augenhöhe

Von Unruh setzte seine Erfahrungen in die Tat um und gründete den Gesprächskreis der "Anonymen Insolvenzler". Hier finden die Teilnehmer vor allem den Austausch mit anderen Betroffenen auf Augenhöhe, berichten über ihre Erfahrungen, hören sich zu und geben Ratschläge. Dass der Name des Kreises an die Anonymen Alkoholiker erinnert, ist eine bewusste Entscheidung. Auch bei den Insolvenzlern geht es um ein tabuisiertes Problem, die Teilnehmer sprechen sich mit Vornamen an, strikte Vertraulichkeit ist oberstes Gebot. Peter Filder fand über das Internet zu dem Angebot und stellte nach einigen Besuchen fest, dass ihm die Gespräche weiterhalfen: "Ich habe gesehen, dass ich nicht der einzige bin, dem es so geht und habe viele Tipps bekommen, wie ich mit der Situation umgehen kann." Das wachsende Interesse an dem Gesprächskreis zeigt, wie groß der Bedarf nach Austausch ist. Angefangen hat von Unruh in Köln, inzwischen werden Insolvenzler-Treffen für weitere Großstädte geplant.

Mentalitätswechsel nötig

Mit dem Eingeständnis der Situation ist der erste und oft wichtigste Schritt zwar getan. Um einen Neuanfang zu wagen, müssen Betroffene jedoch eine Vielzahl rechtlicher Hürden überwinden und vor allem: um Vertrauen werben. Wer eine Insolvenz erlebt hat, braucht gute Argumente, um überhaupt an Kredite zu kommen: "In Deutschland bist du ein Mensch zweiter Klasse nach der Pleite", sagt Filder. Die Politik hat mittlerweile erkannt, dass ein Mentalitätswechsel auch volkswirtschaftlich dringend nötig ist. Justizministerin Brigitte Zypries fordert in der Öffentlichkeit eine "Kultur der zweiten Chance" im Wirtschaftsleben ein. Viel zu oft werde die Insolvenz noch als Endpunkt wirtschaftlichen Handelns gesehen. Tatsächlich ist das Risiko eines Neubeginns für Kreditgeber relativ gering. Wie eine Studie der Boston Consulting Group belegt, agieren ehemalige Insolvenzler bei ihrer zweiten Chance deutlich erfolgreicher als Neu-Gründer von Unternehmen.

Attila von Unruh will diesen Wandel mitgestalten. Der Weg zu gesetzlichen Hilfestellungen und besseren Finanzierungsmöglichkeiten, ist sich der Berater sicher, geht nur über die Öffentlichkeit: "Das Thema muss endlich raus aus der Schmuddelecke," fordert von Unruh. Ein zweites Ziel ist der Ausbau der Selbsthilfe, damit Unternehmer Krisen besser bewältigen, aber auch frühzeitig bekämpfen können, bevor die Insolvenz droht. Der Initiator plant den Aufbau eines "Netzwerks zur gegenseitigen Unterstützung", in dem Insolvenzler Vorträge organisieren, Arbeitskreise abhalten und eine feste Zusammenarbeit mit Schuldnerberatungsstellen, Fachanwälten und Steuerberatern auf die Beine stellen. Für Peter Filder hat sich der Schritt zu den Anonymen Insolvenzlern gelohnt. Seine Erkenntnis nach der Insolvenzerfahrung: "Alleine schafft man es nicht, aus dem Loch rauszukommen. Jetzt habe ich wieder die Kraft, von vorne anzufangen."

Fazit: Chance im Scheitern

Viele Unternehmer geraten ohne eigenes Verschulden in die Insolvenz. Dass die Betriebspleite noch immer als sprichwörtlicher "bürgerlicher Tod" wahrgenommen wird, anstatt als Chance zum Neuanfang, verschwendet geradezu die Leistungsfähigkeit qualifizierter Unternehmer. Die Anonymen Insolvenzler leisten hier doppelt wertvolle Arbeit: mit konkreter Hilfe für Betroffene und durch ihre Öffentlichkeitsarbeit, die das Thema enttabuisiert.

*Name von der Redaktion geändert.

Malte von Lüttichau

zuletzt editiert am 14. Januar 2021