Ausland: Als Dachdeckermeister war für Adrian Wegner klar: Entweder Dinge ganz durchzuziehen oder es zu lassen. So verkaufte er – bis auf sechs Koffer – seinen Besitz und wagte vor rund fünf Jahren in den USA einen Neustart. Es sind und waren viele kleine Erlebnisse, die für ihn den American Spirit ausmachen.
Schon seit dem Mittelalter gehört das Reisen zur Tradition des Handwerks. Die Walz oder Wanderschaft war bis zum Zeitalter der Industrialisierung sogar eine Grundvoraussetzung, nach dem erfolgreichen Abschluss der Gesellenprüfung, um zur Meisterprüfung zugelassen zu werden. Auf der Wanderschaft soll der Geselle sein Handwerk perfektionieren, seinen Horizont erweitern, fremde Kulturen kennenlernen und natürlich auch seinen Mut unter Beweis stellen. Als Dachdecker liegt einem das Reisen also im Blut.
Als das mittelständische Familienunternehmen, bei welchem ich seit 2010 in unterschiedlichen Positionen angestellt bin, ankündigte, seine Aktivitäten in Nordamerika zu erweitern, bewarb ich mich intern um eine Stelle und wurde Teil des Business Development Teams in den USA. Das ermöglichte es mir, zwar nicht als Wandergeselle, aber als Dachdeckermeister in die Ferne zu ziehen und eine Art Walz der Moderne zu beginnen. Amerika war für mich, wie für viele andere, schon immer das Land meiner Träume.

Vom Tellerwäscher zum Millionär – geht das?
Neben der beeindruckenden und abwechslungsreichen Geographie und Landschaft, die sich über mehr als acht Klimazonen und fünf Zeitzonen erstreckt, faszinierte mich vor allem immer der American Spirit. Der Legende zufolge ist dieser an der Westküste der USA am lebendigsten. Los Angeles, Kalifornien bezaubert nicht nur durch Palmen, Sonne und Meer. Dort verbreitet die Traumfabrik der USA seit Jahrzehnten den American
Dream: Durch Hollywood gelangen amerikanische Filme und Pop-Kultur in alle Welt. Mit dem nötigen Glück, so sagt man, kann man es auch immer noch vom Tellerwäscher zum Millionär schaffen, und wenn es nicht klappt, so hat man es wenigstens probiert.


Da ich als Handwerksmeister gelernt habe, Dinge ganz oder gar nicht zu tun, fasste ich damals mit meiner Frau den Entschluss, kurz nach unserer Hochzeit unsere Wohnung in Köln aufzulösen und unseren gesamten Besitz, bis auf sechs Koffer, zu verkaufen, um in Amerika einen Neustart zu wagen. Im Zuge unserer Auswanderung kamen uns natürlich auch öfter mal Zweifel, die immer wieder zu dem Gedanken führten: „Und was, wenn es nicht klappt? Was, wenn wir die US-Visa nicht erhalten, ich im Job nicht erfolgreich bin oder es uns doch nicht gefällt?“ Eine durchaus nachvollziehbare Denkweise. Vor allem da wir, um das US-Visum zu erhalten, erstmal auf unbestimmte Zeit nach Kanada ziehen mussten, damit ich in der nordamerikanischen Tochtergesellschaft eine Anstellung vorweisen konnte.
Zwangspause in Kanada
Als ich mal wieder darüber nachdachte, was alles schiefgehen kann, musste ich an meinen amerikanischen Chef denken. Bei einem unserer ersten Treffen sagte er etwas zu mir, das mich zum Nachdenken brachte: „Aber was ist denn, wenn alles gut geht?“ Dieser einfache Satz fasst ziemlich gut zusammen, was für mich den American Spirit ausmacht. Aus Erfahrung kann ich jetzt sagen, dass natürlich immer etwas schiefgeht. Bekannterweise ist zum Beispiel allein der Erhalt eines US-Visums mit erheblichen Hürden verbunden. Und so wurde auch mir das Arbeitsvisum für die USA bei meinem ersten Antrag zunächst nicht erteilt. Da saßen wir also bei Minus-Temperaturen in unserem AirBnB in einer kanadischen Kleinstadt nahe der Niagarafälle, ohne Palmen, ohne festen Wohnsitz und ohne Plan B. Doch so kalt der Winter in Kanada auch ist, so warmherzig und liebenswert sind die Kanadier. Und so schlossen wir in kurzer Zeit viele Freundschaften. Unser Ziel war jedoch noch immer Kalifornien.


Zur nötigen Qualifizierung für ein US-Arbeitsvisum muss plausibel dargestellt werden, dass man Fähigkeiten und Qualifikationen besitzt, die es so in den USA nicht gibt und die zum wirtschaftlichen Erfolg der US-Wirtschaft beitragen. Spricht man mit Immigrationsanwälten, finden sich unter den Antragstellern vornehmlich Akademiker, die in ihrem Fachbereich herausragende Leistungen in den Bereichen Wirtschaft, IT, Medizin oder BioTech vorweisen können. Nun gibt es jedoch eine Sache, ohne die diese Fachleute ihren Forschungen und Arbeiten nicht nachkommen können: ein von Handwerkern fachgerecht errichtetes und funktionierendes Gebäude.
Fähigkeiten von deutschen Handwerkern im internationalen Vergleich einzigartig
Mit großer Unterstützung meines Arbeitgebers, Übersetzungen von Fachartikeln, die ich unter anderem für DDH geschrieben habe, Bescheinigungen der Dachdeckermeisterschule in Eslohe und der Handwerkskammer Dortmund sowie einer Dokumentation mit über 100 Seiten ist es mir im zweiten Anlauf dann gelungen, der US-Einwanderungsbehörde zu beweisen, dass die Fähigkeiten und Qualifikationen, die man als deutscher Dachdeckermeister mitbringt, eine Bereicherung für die US-Wirtschaft sind und in den USA so nicht zu finden sind. Diese Fähigkeiten sind hierzulande für einen Dachdeckermeister fast schon selbstverständlich. Im internationalen Vergleich gibt es jedoch kaum vergleichbare Qualifikationen. Als Dachdeckermeister muss man nicht nur sein „Handwerk“ beherrschen, zu dem Steildach-Eindeckungen mit den verschiedensten Materialien genauso gehören wie die Abdichtung von Flachdächern und das Verkleiden von Fassaden. Man ist zudem kaufmännisch ausgebildet, kann komplexe Angebote, Arbeitsanweisungen und Arbeitsschutzmaßnahmen erstellen, ist selbst Ausbilder und muss vor allem Bauphysik anwenden und verstehen.

An einer komplexen Gebäudestruktur zu beurteilen, wo welches Material mit welcher Wärmeleitfähigkeit und welchem SD-Wert zu verwenden ist, wie eine kontinuierliche Luftdichtheitsschicht geplant wird, ist an sich schon eine sehr anspruchsvolle Tätigkeit. In der Lage zu sein, all diese Dinge nicht nur zu wissen und planen zu können, sondern sie in die Praxis mit wirtschaftlichem Erfolg umzusetzen, ist nochmals ein ganz anderes Thema.
Abstimmung der Gewerke nicht nur in Amerika der Schlüssel zum Erfolg
An vielen Projekten in den USA, von Texas über Kalifornien bis nach Hawaii, habe ich gesehen, wie unzählige Beteiligte an einem Bauprojekt an der Lösung dieser Aufgabe gearbeitet haben. Bei einem High End Residential Building oder Commercial Building gibt es den Hauptarchitekten, den Bauteilarchitekten, den Ausschreibungsschreiber (Spec writer genannt), den Building Consultant – der technische Aspekte des Projekts überwacht, den Owners Rep – der Vertreter des Auftraggebers, den Immobilienentwickler, dann natürlich den GC, den Generalunternehmer, der in seinen Abteilungen jeweils Einkäufer, Kalkulatoren, Planer und Projektleiter hat, und dann gibt es auch noch den Contractor, den eigentlichen Handwerker, der all die Ideen und Ansprüche vor Ort in die Praxis umsetzen muss.
In diese Gemengelage mischen sich dann natürlich noch die Händler, die Vertreter der Hersteller, freie Handelsvertreter und Bauteilüberwacher sowie Gutachter und oftmals auch Rechtsanwälte ein. Häufig haben diese Parteien ganz unterschiedliche Ziele. Am Ende soll jedoch ein funktionierendes und fachgerecht erbautes Gebäude entstehen.
Luftdichtheitsschicht an einem Schulkomplex

Bei einem meiner ersten großen Projekte wurde ich mit der Planung der Luftdichtheitsschicht an einem Schulkomplex betraut. Bei dem Termin zur Verlegeschulung mit dem Contractor stellten wir beide verwundert fest, dass die Fenster bereits in den Stahlrahmen der Fassade eingebaut waren. Auf Nachfrage beim zuständigen Generalunternehmer auf der Baustelle sagte dieser, dass er letzte Woche unerwartet Leerlauf gehabt habe und deshalb den Fensterbauer mit dem Einbau beauftragt habe. Schließlich gelte der Gundsatz „Zeit ist Geld“. Auf die Frage, wie wir nun die Abdichtung und Luftdichtheitsschicht unter die bereits eingebauten Fenster bringen sollten, bekamen wir die leicht gereizte Antwort: „Wir sind nicht hier, um Probleme zu diskutieren, sondern um Lösungen herbeizuschaffen, und wenn wir das nicht können, wird sich schon jemand finden, der es kann.“ Grundsätzlich bin ich selbst ein Fan von schnellen und pragmatischen Lösungen, aber selbst im Land der unbegrenzten Möglichkeiten gibt es Dinge, die unmöglich sind. Also wurden alle 78 Fenster wieder ausgebaut, um anschließend eine fachgerechte Abdichtung herzustellen.

American Spirit, Legende oder Realität?
Aber was hat das nun mit dem American Spirit zu tun, und gibt es ihn noch? Für mich waren es viele kleine Erlebnisse, die diesen Spirit ausmachen. Ein gutes Beispiel ist der Surfer, der seit Jahren mit seinem Vater handgemachte Surfbretter herstellt und das Meer so sehr liebt, dass er den Traum hatte, seine Werkstatt und Wohnstätte aufs Wasser zu verlegen. Da er niemanden finden konnte, der dieses Projekt für ihn umsetzen konnte, entschloss er sich, das Handwerk selbst zu erlernen, und baute sich eine schwimmende Werkstatt mit Wohnfläche, mit der er nun auf der vorderen Küste Santa Barbaras im Pazifik schwimmt.


Gut verstanden habe ich mich zum Beispiel mit den beiden aus Guatemala stammenden Dachdeckern, mit denen ich bei unerträglicher Hitze zwei Tage lang in Texas auf einer Baustelle zusammengearbeitet habe. In einem Mix aus Englisch, Spanisch und Deutsch diskutierten wir über Balkonanschlussdetails: „Yes, esta es muy kompliziert.“ Warum sie in die USA gekommen waren, habe ich übrigens so verstanden: In ihrer Heimat ist es oft egal, welches Können man besitzt oder wie hart man arbeitet. Wenn man nicht die richtigen Leute kennt, hat man eher schlechte Karten. In den USA ist es zwar nicht egal, wen man kennt, aber wer was kann und hart arbeitet, bekommt trotzdem eine Chance auf ein besseres Leben. Diese hart arbeitenden Menschen sind das Fundament der US-Bauindustrie und vieler anderer Industrien. Sie sind es, die den American Dream durch Gebäude, Infrastruktur, Produkte und bewässerte Gartenanlagen zur Realität werden lassen.
In einer Schulung zu Bauphysik in Arizona saß ich neben einem älteren Bauunternehmer, der sehr konzentriert dabei war, einige Grundlagen zu vertiefen, als ich fragte, was er denn vorher gemacht habe. Er antwortete, dass er eigentlich im Ruhestand sei, aber seine Leidenschaft jedoch immer das Handwerk gewesen sei, weshalb er sich nun endlich selbstständig gemacht hätte und Häuser baue. Davor war er Kampfjetpilot der US Airforce gewesen, genau so wie in Top Gun. Daraufhin outete sich auch der Referent als Speedfreak und berichtete, er selbst sei Rennfahrer und fahre fast jedes Wochenende irgendwo ein Rennen und würde am liebsten in der NASCAR mitfahren. Anschließend verglichen wir ein Wärmebrückendetail beim Übergang eines Flachdaches über die Attika in die Fassade und den kontinuierlichen Anschluss der Luft- und Dampfsperre in diesem Bereich. Mit Rennerfahrung oder Kampfeinsätzen in 20 000 Fuß Höhe konnte ich zwar nicht glänzen, aber ich gab zu bedenken, wie wichtig die Abfolge der Gewerke sei, um die Luftdichtheitsschicht fachgerecht anschließen zu können. Beide guckten mich an und sagten völlig begeistert: „Sehen Sie, genau das ist echte Hanwerkskunst! Toller Hinweis.“
"Was ist, wenn am Ende alles gut geht?"
Mit dem Ausweis zur Baustelle
Nach einem Kongress in Washington D.C., als ich mit einem meiner amerikanischen Kollegen in einer Bar mit einer Gruppe teilnehmenden Architekten ins Gespräch gekommen bin und er mir einen seiner ältesten Freunde vorstellte, fragte mich dieser, ob ich auch kurzfristig Baustellen-Termine machen würde. „Ja klar“, meinte ich. Gut, dann solle ich ihn am nächsten Tag mit einem meiner Kollegen treffen. Wichtig wäre, dass ich ein gültiges Ausweisdokument mitbringe. Für gewerbliche Baustellen in den USA ist das nichts Ungewöhnliches. Die Adresse, an der wir uns trafen, war ein Starbucks in einem Einkaufszentrum in der South Joyce St. in Arlington. Als ich in dem Coffeeshop ankam, wartete mein Kollege bereits mit seinem Freund. Mit einem Lächeln fragten sie mich, ob ich schon mal ein richtig großes Bürogebäude gesehen hätte. „Wie wäre es mit dem größten der Welt?“, fragte mich der Architekt. Auf dem Weg nach draußen sagte er, dass „die Baustelle“, auf der er sein Büro habe, direkt gegenüber im Pentagon (dem Verteidigungsministerium der USA) läge. So verbrachte ich fast den ganzen Tag mit meinem Arbeitskollegen und seinem Buddy aus alten Tagen im Pentagon. Seine Aufgabe war die Planung neuer Brandmeldeanlagen und Fensteranschlüsse. Ich kam vorbei an Konferenz- und Meetingräumen, die man sonst nur aus Filmen kennt, und ja, im Food Court des Pentagons gibt es einen McDonalds und Burger King. Das Essen dort schmeckt allerdings genauso wie in der zivilen Welt.
Den kompletten Beitrag lesen Sie in DDH 11.2022.
Adrian Wegner
