Ein Dachdecker arbeitet auf einem Dach und befestigt Holzlatten mit einem Nagelgerät.
Benjamin Wichern in Aktion – meistens auf dem Steildach, in Zukunft eher im Büro. (Quelle: Meier Bedachungen)

Porträts 2025-11-26T08:54:36.973Z Vom Flugzeug zum First

Porträt: Der Job bei Airbus wurde ihm irgendwann zu langweilig. Mit 36 Jahren entschied sich Benjamin Wichern für den Sprung ins Dachdeckerhandwerk. Erst Praktikum, dann Geselle. Inzwischen ist er Meister, 2028 wird er das Dachdeckerunternehmen Meier übernehmen.

An den Wendepunkt kann sich Benjamin Wichern noch sehr gut erinnern. Das war an seiner eigenen Hochzeit. Dort sprach ihn Eigentümer Dachdecker Meier – der Onkel seiner Frau – an. „Bei einer Bacardi-Cola fragte er mich, ob ich mir vorstellen könnte, das Unternehmen langfristig zu übernehmen. Er wollte mich direkt am Tresen überzeugen“, lacht Wichern. Nach intensiven Gesprächen mit seiner Frau und einem längeren Praktikum war die Entscheidung gefallen. Er begann seine zweite berufliche Ausbildung – als Dachdecker.

Mit 36 Jahren noch einmal ganz von vorne anzufangen, war eine große Umstellung. Wichern blickte auf ein Jahrzehnt Industrieerfahrung bei Airbus zurück, hatte als Metallbauer eine fundierte handwerkliche Ausbildung genossen und sich bis zum Qualitätsprüfer weiterentwickelt. Doch der Job wurde zunehmend automatisiert, die aktive Mitgestaltung ging verloren: „Ich war nur noch ein kleines Zahnrad in einem riesigen System. Da konnte ich als Mensch nichts mehr bewirken. Mein Spaß an der Arbeit ging verloren“, beschreibt Wichern seine Motivation zum Wechsel.

Am Anfang standen die Rückenschmerzen

Zwei Handwerker stehen lächelnd vor einer Werkstatt mit verschränkten Armen.
Die Betriebsübergabe soll 2027 über die Bühne gehen: Benjamin Wichern (links) mit Firmenchef Dieter Meier. (Quelle: Meier Bedachungen)

Für Wichern war der Wechsel ins Dachdeckerhandwerk nicht nur eine mentale und strategische Herausforderung, sondern zunächst vor allem auch eine körperliche. Nach 17 Jahren im Büro sowie vereinzelt in der Fertigung war die Belastung auf dem Dach eine enorme Umstellung: „In den ersten Wochen war es schwierig. Muskelkater und Rückenschmerzen haben mich begleitet, und manchmal musste ich mich mit Schmerztabletten aus dem Bett holen“, erinnert er sich. „Man bewegt sich auf dem Dach ganz anders als in der Fertigung oder beim klassischen Krafttraining.“ Doch mit der Zeit gewöhnte sich der Büromensch an die Abläufe auf dem Dach.

Technisch verlangte der Beruf zusätzlich einen Perspektivenwechsel. Die handwerklichen Abläufe des Dachdeckerhandwerks unterscheiden sich stark von der Arbeit mit Präzisionsteilen in der Flugzeugfertigung. „Während meiner Ausbildung habe ich viel gelesen, mich mit den Fachregeln auseinandergesetzt und direkt mit meinem Chef zusammengearbeitet“, beschreibt Wichern. Um optimal auf die neuen Anforderungen vorbereitet zu sein, verkürzte er seine Ausbildung auf anderthalb Jahre – dank seiner vorherigen Metallbau-Ausbildung und guten schulischen und praktischen Leistungen. Allerdings war die Zeit der Ausbildung und der Meisterschule von Februar 2021 bis April 2025, noch dazu mit einem kleinen Sohn, ohne die Unterstützung seiner Frau, Familie und Freunden nicht möglich gewesen.

Und wie war das mit den Arbeitskollegen? Wie fühlten sich die jungen Dachdecker, wenn ein 36-Jähriger auf einmal im Betrieb neu anfängt? „Innerhalb von zwei Wochen war das Thema gegessen, die Jungs haben mich schnell akzeptiert. Auch weil ich gleich mit offenen Karten gespielt habe, nach dem Motto: ‚Pass auf, ich bin aus der Familie, möchte aber ganz normal behandelt werden‘“, erzählt Wichern. Sein technisches Vorwissen und seine Offenheit erwiesen sich als Vorteil – nicht nur im Team, sondern auch im Kundenkontakt.

Auftragsschwerpunkt bei Meier Bedachungen ist die Sanierung von Steildächern, Flachdächern, Fassaden, Balkonen, Schornsteinen, Austausch und Einbau von Dachflächenfenstern. Bei Absturzsicherungen ist Benjamin Wichern sachkundiger Fachmonteur. „Oftmals gleicht ein Dach einem historischen Puzzle, bei dem frühe Baumethoden berücksichtigt werden müssen. Es ist dann unsere Aufgabe, innovative und nachhaltige Lösungen mit modernen Materialien zu entwickeln“, sagt Wichern. Ein klarer Vorteil ist die schlanke Unternehmensstruktur mit 15 Mitarbeitern, die ein „Rundum-sorglos-Paket“ für Kunden ermöglicht.

Trotz des Einsatzes von zum Beispiel Kalkulationsprogrammen sind die meisten Abläufe noch analog: Die Zeiterfassung erfolgt handschriftlich über Stundenzettel, und Baustellenakten werden überwiegend per Papier geführt. Das funktioniert bisher erstaunlich gut, dennoch will Wichern das ändern. Die Umsetzung technischer Verbesserungen und die Einführung diverser Tools zur Baustellendokumentation stehen auf seiner Agenda.

Nachwuchsgewinnung: Ein Kernproblem im Handwerk

Der Mangel an jungen Auszubildenden ist ein Thema, das auch Meier Bedachungen betrifft. „Wir hatten immer ein bis zwei Auszubildende, aber mittlerweile erreichen uns kaum noch Anfragen“, so Wichern. Um dem entgegenzuwirken, plant er mehrere Maßnahmen, darunter die aktive Ansprache von Schulen und Kindergärten sowie die Präsenz auf Social-Media-Plattformen. Besonders stolz ist er auf ein Projekt, das in Kooperation mit einer Kita durchgeführt wird: „Hier sollen Kinder spielerisch den Dachdeckerberuf kennenlernen. Mit kleinen Aufgaben – wie dem Herstellen eines Schieferherzens – möchten wir Begeisterung wecken und schon früh ihre kreativen Potenziale ansprechen.“

Ein Dachdecker arbeitet auf einem Dach und schneidet Dachziegel mit einem Winkelschleifer.
Benjamin Wichern mit Gehörschutz und Brille. (Quelle: Meier Bedachungen)

Der Kampf gegen Vorurteile

Doch Wichern weiß, dass das ein langer Weg ist. Der Dachdeckermeister kennt die bekannten Vorurteile gegen das Handwerk. Einmal war er mit seinen Arbeitskollegen auf einer Baustelle und reparierte das Flachdach einer Schule. Dabei bekamen sie mit, wie eine Lehrerin, die vom Klassenlärm komplett überfordert war, ihren Schülern lautstark androhte: „Wenn ihr nicht gleich ruhig seid, dann könnt ihr euch vorstellen, was aus euch wird. Guckt raus, dann werdet ihr das“, und deutete mit dem Finger auf die Dachdecker gegenüber. Für Wichern war das ein Schockmoment. „Ich bin dann erst mal kurz ins Auto, um durchzuschnaufen.“ Das ist eine Weile her, und Wichern kann darüber mittlerweile lächeln.

Den kompletten Beitrag lesen Sie in DDH 12. 2025.

zuletzt editiert am 26. November 2025