Zwei Personen sitzen lächelnd in einer Werkstatt vor Regalen mit Materialien.
Leiten den Dachdecker-Betrieb gemeinsam: Vater Hans-Jürgen und Tochter Jule Baumann. (Quelle: Baumann)

Porträts 2025-10-07T13:21:44.792Z KI im Büro, Herz auf dem Dach

Young Generation: Fachkräftemangel, überfällige Digitalisierungsprozesse und zunehmend anspruchsvolle Kunden. Wer einen Dachdecker-Betrieb führt oder übernimmt, muss sich mit KI und der eigenen Rolle als Arbeitgeber beschäftigen. Jule Baumann, Hannah Kistermann und Matthias Kremer erläutern, wie es gehen kann.

Sie kommen aus unterschiedlichen Regionen – Jule Baumann aus Laichingen, Hannah Kistermann aus Würselen, Matthias Kremer aus Trier – und haben doch viele Gemeinsamkeiten: Zunächst mal die Leidenschaft fürs Dachdecken. Und dann folgt auch schon der größte gemeinsame Nenner der beiden jungen Unternehmerinnen: Der Mangel an qualifiziertem Personal bleibt eines der drängendsten Probleme. Während Matthias Kremer mittlerweile wieder Helfer findet – „das war früher schwieriger“ – bleibt es bei Gesellen und Meistern schwierig. Azubis zu gewinnen, klappt bei Dachdecker Kremer wieder besser.
Jule Baumann, Dachdeckermeisterin und Bachelor Handwerksmanagement, schildert ein anderes Bild: In ihrem Betrieb ist 2025 zum ersten Mal seit über 20 Jahren kein neuer Azubi gestartet. Dazu kommt ein personeller Engpassaufgrund von krankheitsbedingten Ausfällen. Und trotzdem: „Wir sind zwar zu wenige – aber die, die wir haben, sind top. Fast nur Gesellen und Meister. Das ist heute keine Selbstverständlichkeit“, so Baumann. Auch Matthias Kremer übernimmt die Bewerbergespräche – mit 28 Jahren aber aus der Perspektive einer fast schon anderen Generation.

Blickfang an Berufsschulen

Hannah Kistermann, mit 20 Jahren die Jüngste im Bunde, ist aktuell auf der Meisterschule am BBZ Mayen. Der Dachdeckerbetrieb Hilgers wurde 1933 gegründet, die Nachwuchssuche gestaltet sich entspannt. Im väterlichen Unternehmen setzt man noch auf Mund-zu Mund-Propaganda – bislang erfolgreich. Und das liegt auch an Hannah. Denn die junge Dachdeckerin präsentiert als Jugendbotschafterin das Gewerk an den Berufsschulen. Wirkungsvoll in klassischer Kluft. „Aktuell war ich bei Schülern einer 8. Klasse. Die staunen dann immer, wenn ich da in schöner Dachdecker-Zunftkleidung vorbeikomme.“ Das ist immer ein Blickfang und auch dankbarer, als wenn jemand von der Sparkasse einen Power-Point-Vortrag hält.
Eigentlich wollte Hannah Medizin studieren statt aufs Dach zu gehen, doch das dauerte ihr zu lang. Mitten im Wirtschaftsgymnasium zog sie die Reißleine, schmiss das Abi und stieg ins Handwerk beim väterlichen Betrieb ein. Für Kistermann keine große Umstellung – Vater und Tochter verstehen sich privat prima.

Als junge Frau im Handwerk trifft Kistermann auf klassische Rollenmuster. „Am Anfang fragten die Kunden noch: Wo bleibt denn der Dachdecker?“, berichtet sie. Ihre Reaktion: sachlich, direkt – und humorvoll. Genauso verschaffte sie sich im elterlichen Betrieb Respekt.

Ein Dachdecker steht auf einem Gerüst neben einem Schieferdach und hält ein Werkzeug in der Hand.
Entspannt auf dem Dach: Matthias Kremer (Quelle: Kremer)

Alle drei Dachdecker:innnen betonen, wie wichtig der direkte Kontakt bei der Nachwuchsgewinnung ist. Baumann übernimmt aktiv die Betreuung von Praktikant:innen – vom Erstkontakt bis zum Werkstatt-Rundgang am ersten Tag. „Ich glaube, die trauen sich eher, mich was zu fragen, weil ich noch nah an ihrem Alter dran bin“, lacht die 26-jährige Meisterin.

Recruiting: Der ernüchternde Blick auf Social Media

Einige Unternehmen gehen den schwierigen Weg mit Agenturen. Doch sowohl Kremer als auch Baumann haben mit digitalen Recruiting-Maßnahmen experimentiert – und waren ernüchtert.

Jule Baumann: „Wir haben über eine Agentur bezahlte Social-Media-Anzeigen geschaltet. Zwei Bewerbungen in zwei Monaten – beide unpassend. Kein Führerschein, über eine Stunde Anfahrt.“ Ihr Fazit: Im Handwerk zählen persönliche Kontakte, Zufriedenheit im Betrieb und Weiterempfehlung oft mehr als Likes.

Eine Frau arbeitet auf einem Dach und verteilt eine schwarze Substanz mit einem Besen.
Hannah Kistermann präsentiert sich auf Instagram. (Quelle: Kistermann)

Auch Kremer berichtet von gemischten Erfahrungen. Der ehemalige App-Programmierer kennt sich aus und war dennoch überrascht. Denn sein einziges virales Video – eine platzende Wasserblase – brachte über 1,5 Millionen Klicks, aber keinen echten Nutzen. „Das hat mich eher frustriert. Du gibst dir Mühe, überlegst dir was, und dann geht so ein Zufallsprodukt viral.“ Er erkennt die strategische Bedeutung digitaler Präsenz, aber auch deren Grenzen. Agenturangebote empfindet er als zu standardisiert und zu teuer: „Das kann ich besser und günstiger selbst machen“, sagt er.

Hannah Kistermann nutzt Instagram, um für sich und das Dachdeckerhandwerk zu werben. Das Dachdecker-Unternehmen Hilgers spielt dabei keine Rolle.

Digitalisierung & KI: Was in der Praxis schon funktioniert

Generell setzen Kremer und Baumann auf Digitalisierung – mit ganz unterschiedlichen Schwerpunkten. Jule Baumann hat im eigenen Betrieb viele Prozesse umgestellt: Die Mitarbeitenden stempeln per iPad ihre Arbeitszeiten, Rapportzettel werden digital ausgefüllt, Arbeitspläne laufen über einen Werkstattbildschirm statt auf Papier.

Doch die Digitalisierung zeigt auch Grenzen. Vor allem im E-Mail-Management sieht Baumann dringenden Handlungsbedarf: „Wenn am Tag 40 E-Mails kommen, geht zu viel unter. Und ich finde, spätestens nach zwei Tagen muss eine Antwort raus.“ Ein digitales Tool zur strukturierten Anfragen-Bearbeitung steht auf der Wunschliste – und wird bereits mit den Eltern diskutiert.

Matthias Kremer geht noch einen Schritt weiter: KI ist für ihn fester Bestandteil der Büroarbeit – insbesondere bei Angebotsvergleichen. „Wenn der eine in Kubikmetern rechnet und der andere in laufenden Metern, kann KI das sofort umrechnen. Das spart enorm Zeit.“ Auch für Texte, E-Mails und Rechtschreibprüfung kommt sie regelmäßig zum Einsatz. Und: Die KI-Nutzung färbt ab. „Meine Eltern im Büro nutzen es inzwischen auch – die Lernkurve ist da.“ Kremer bringt es auf den Punkt: „Die Baustelle wurde in den letzten Jahrzehnten effizienter – durch Akkugeräte, Krane, schnellere Prozesse. Jetzt muss das Büro aufholen. Und dafür ist KI das richtige Werkzeug.“

Bei Hilgers Bedachungen läuft dagegen noch vieles old school. Das Unternehmen hat keine Website, Hanna Kistermann muss lachen. Aber es funktioniert. Der Betrieb hat keine Nachwuchsprobleme, ist gut strukturiert und hat Arbeit ohne Ende. Privat ist Hannah Kistermann längst digital unterwegs, der Betrieb hingegen arbeitet noch klassisch mit Stift und Papier. Stück für Stück führt sie neue Tools ein. Etwa eine Drohne, die sie ursprünglich privat angeschafft hat und die nun fester Bestandteil des Betriebs ist. Auch KI-Anwendungen nutzt sie bereits – sei es bei der Angebotserstellung oder für das Lernen in der Meisterschule, wo digitale Lösungen zunehmend Einzug halten.

Nachhaltigkeit: Echte Substanz statt bloßer Imagepflege

Immer häufiger prüfen junge Dachdeckerinnen und Dachdecker, wie nachhaltiges Handeln im Unternehmer-Alltag aussehen kann – jenseits von Schlagworten. Matthias Kremer verfolgt ein klares Ziel und gibt ein Beispiel: Rückbaubarkeit statt Verklebung. Ein Dach soll im Idealfall so gebaut sein, dass die Kinder des Bauherrn es in 30 Jahren ohne großen Aufwand sanieren können. „Verklebte Aufbauten erschweren das.“ Selbstverständlich verbaut das Dachdecker-Unternehmen vermehrt Dachbegrünungen. Wichtig ist dem Betrieb auch die konsequente Mülltrennung auf Baustellen.

Jule Baumann geht das Thema pragmatisch an – mit klarer Kundenberatung: „Wir zeigen verschiedene Produkte und erklären, welche Förderung es gibt. Dreifachverglasung kostet mehr – aber langfristig lohnt es sich.“ Im Bereich Photovoltaik arbeitet der Familienbetrieb seit Jahren mit einem Solarteur zusammen. Der nächste Schritt wird gerade umsetzt: Ein eigener Elektriker ist fest angestellt seit Juli, führt aber noch keine elektriker-spezifischen Aufgaben aus. „Das war eine Riesenchance. Sein Freund arbeitete schon bei uns – und der neue Mitarbeiter passt fachlich und menschlich perfekt ins Team“, freut sich Baumann.

Vom Vier-Tage-Modell bis zur Nachfolgeplanung

Was alle ebenfalls verbindet: ein hohes Maß an Struktur und langfristigem Denken. Jule Baumann übernimmt schrittweise die Leitung des Familienbetriebs. Ihr Vater wird ab seinem 60. Geburtstag jedes Jahr einen Arbeitstag reduzieren – bis zum vollständigen Übergang mit 65. „Ich bekomme Stück für Stück mehr Verantwortung – aber ich weiß auch, dass mein Vater loslassen kann.“ Ein geordneter, generationsübergreifender Wechsel, der Vertrauen und Klarheit schafft.

Auch beim Thema Arbeitszeit geht die Familie eigene Wege: Jeden letzten Freitag im Monat bleibt der Betrieb geschlossen – eine freiwillige Entscheidung, um die Zufriedenheit der Mitarbeitenden zu stärken. „Mein Vater kam von sich aus mit der Idee. Und ich finde, es ist ein starkes Zeichen“, sagt sie.

Natürlich bekommen die Mitarbeiter von Hilgers Bedachungen die Diskussionen um eine Vier-Tage-Woche mit. Doch die zwanzigjährige Hannah Kistermann vertritt dieselbe traditionelle Linie wie Vater Roy: „Wenn freitags der einzig gute Tag ohne Regenwetter ist – wie sollen wir dann mit gutem Gewissen zu Hause bleiben?“, antwortete sie den langjährigen Gesellen. Die Kollegen verstehen diese Sichtweise gut und kommen trotzdem gerne zur Arbeit. „Das liegt auch an unserer guten Gemeinschaft“, betont Hannah Kistermann.

Fach- und betriebswirtschaftlich liegen Vater Konrad und Matthias Kremer meist auf einer Linie. Die Pläne zur Betriebsübergabe stehen auch schon. „Der Plan ist, die doppelte Besetzung, die wir im Moment haben, zu nutzen, um den Betrieb fit für die nächsten 30 Jahre zu machen. Dazu zählen der Ausbau des Betriebsgebäudes genauso wie die Digitalisierung. Sobald dieser Prozess abgeschlossen ist, wird sich mein Vater sukzessive in den Ruhestand verabschieden“, sagt Matthias Kremer.

Warum Leidenschaft ein Erfolgsfaktor ist

Trotz aller Organisation, Zahlen und Tools: Für Jule Baumann steht das Handwerk selbst im Zentrum. „Ich arbeite einfach lieber draußen als im Büro. Am liebsten auf dem Steildach – wegen der Aussicht, wegen des Gefühls, das ist meine Entspannung und meine Leidenschaft.“ Für sie ist es ein guter Ausgleich vom Büro – auch wenn der Tag stressig war oder die E-Mails sich stapeln.

Auch Matthias Kremer betont, wie wichtig der direkte Kundenkontakt bleibt. Natürlich verfolgt er andere Dachdecker, die bereits Avatare oder Konfiguratoren für die Erstberatung einsetzen. Trotz aller Digitalisierung setzt er nicht auf automatisierte Prozesse. „Unser Mehrwert liegt in der persönlichen Beratung – nicht in der Standardisierung.“

Ein Herzensanliegen ist Hannah Kistermann die Wertschätzung für Gesellen. „Es wird zu oft gefragt: Und wann machst du deinen Meister?“ Für sie steht fest: „Ein zuverlässiger, kompetenter Geselle ist heute Gold wert – und sollte auch so behandelt werden.“

Den kompletten Beitrag lesen Sie in DDH 10.2025.

zuletzt editiert am 07. Oktober 2025